Geschichte der Bildungsreise

Reisen bildet
Geschichte der Bildungsreise von der Antike bis heute
Die historischen Wurzeln der Bildungsreise reichen bis in die Mitte des 2. vorchristl. Jahrtausends zurück. Jedoch gewinnt das, was wir heute Bildungstourismus nennen, erst im griechisch-römischen Kulturkreis gewisse Konturen. Spätestens dann aber zählt der Besuch von Landschaften und Monumenten, die als vorbildlich oder besonders eindrucksvoll gelten, und das Kennenlernen fremder Völker, Sitten und Gebräuche zu den unverzichtbaren kulturellen Praktiken, die zum Erwerb und der Weitergabe von Bildung und Wissen genutzt werden. 
Die Bildungsreise in der Antike
Die Grundlagen für die ersten Bildungsreisen wurden etwa im 8. vorchristlichen Jh. von den Griechen gelegt, welche Teile der Küsten des Schwarzen Meeres und des Mittelmeers kolonisierten. Durch die Gründung von Handelsstationen und Städten schufen diese griechischen „Expats“ die notwendigen Voraussetzungen zur Etablierung eines Verkehrs- und Wirtschaftsraums, der schließlich von Spanien bis zur Donaumündung reichen sollte. Einem alsbald beginnenden Orakel- und Olympiatourismus stand damit nichts mehr im Wege. Im Zuge dieser Aktivitäten unternahmen auch immer häufiger gebildete Griechen ausgedehnte Reisen in die entlegensten Gebiete zum Zwecke der Vermehrung ihrer Erkenntnisse. Zu den bedeutendsten dieser Gelehrten gehörte zweifellos der Geschichtsschreiber, Geograph und Völkerkundler Herodot von Halikarnassos (490 v. Chr. – um 430/420 v. Chr.), der nach eigener Aussage ausgedehnte Reisen nach Ägypten, ins Schwarzmeergebiet, nach Thrakien und Makedonien bis in den Vorderen Orient unternahm.
Herodot-Statue auf der Rampe des Parlaments in Wien:  Walter Maderbacher © Wikimedia Commons
Ob er nun tatsächlich dort war, oder ob er sein Wissen nur aus den Erzählung von Reisenden bezog, die wirklich die beschriebenen Orten mit eigenen Augen sahen, tut eigentlich nichts zur Sache. Übrig bleibt, dass sein Werk von „erstaunlicher Größe und ungeheurer Wirkung“ den Lesern anscheinend eine Vorstellung von der Vielfalt der Welt vermitteln konnte. Vor allem die Geschichten, die man sich von Ägypten erzählte, übten auf die Griechen eine besondere Faszination aus. Vielleicht erklärt dies, warum die ägyptischen Kulturleistungen zu einem wichtigen Bestandteil des Fundaments griechischen Geisteslebens zu zählen sind. 

„Homer stellt uns Odysseus als den weisesten aller Griechen vor, denn er war viel gereist und hatte die Städte und Sitten vieler Völker gesehen.“ (1)
Richard Lassels

Zwischen dem 3. und dem 1. vorchristlichen Jahrhundert gelang es dann den Römern, ihre Herrschaft über das gesamte Mittelmeergebiet auszuweiten. Parallel zum Wachstum des Reiches verlief der rasante Ausbau eines dichten Straßennetzes und die Sicherung eines regelmäßigen Schiffsverkehrs. Bald umspannte ein dichtes Netz von Verkehrswegen das ganze Römische Reich, die von Soldaten, Regierungsbeamten, Kurieren und Händlern genutzt werden konnten. Seit Augustus erlangte das mit dem Begriff „cursus publicus“ bezeichnete System zur Beförderung von Nachrichten, Gütern und Personen eine immer größere Bedeutung. Den Reisenden standen entlang der Straßen Raststationen und Herbergen zur Verfügung. Dort konnten auch Pferde gewechselt und Wagen repariert werden. Es gab sogar schon relativ genaue Straßenkarten, wie uns etwa die „Tabula Peutingeriana“, eine unnatürlich verzerrte Darstellung des römischen Straßennetzes mit Angabe von Militärstationen und Entfernungen im spätrömischen Reich von den Britischen Inseln bis nach Asien, in eindrucksvoller Weise zeigt. 
Archäologischer Park Xanten Herberge kavalierstour
Rekonstruktion einer Herberge im LVR-Archäologischen Park Xanten: Die unmittelbar am Hafen gelegene Herberge bot für die Reisenden, die mit dem Schiff ankamen, ausreichend Platz und Komfort mit Gästezimmern und Verpflegung. An den Südflügel der Herberge schloss sich eine kleine Badeanlage an, die den Hausgästen zur Verfügung stand.
Der sich in dem Zusammenhang entwickelnde Bildungstourismus, über den wir übrigens recht gut unterrichtet sind, konnte von dieser erstaunlichen Infrastruktur zweifellos profitieren. Anzunehmen ist, dass die Hauptstadt Rom als Zentrum der politischen und militärischen Macht das vornehmliche Ziel der Wissbegierigen war. Dazu kam natürlich der Flair der Großstadt und die Anziehungskraft der zahllosen griechischen Kunstwerke, die als Kriegsbeute oder durch Kauf in die Stadt am Tiber gelangt waren. Aber auch der Besuch der Stätten der griechischen Klassik stand schon damals hoch im Kurs. Vom Heroenkult erwartete man sich Inspiration für eigene große Taten, von der Besichtigung berühmter Schlachtfelder die Vertiefung der eigenen militärischen Kenntnisse. Diejenigen, die nicht die Dienste eines Fremdenführers in Anspruch genommen hatten, konnten auf die Werke des Reiseschriftstellers, Geografen und Historikers Pausanias (um 115 bis um 180 n.Chr.) zurückgreifen, der – wie schon viele andere vor ihm – im 2. Jh. n.Chr. einen Reiseführer über Griechenland verfasst hatte. Der wohl aus Kleinasien stammende Pausanias, der sich bei seinen Darstellungen sowohl auf seine eigenen Beobachtungen vor Ort als auch auf die damals bereits vorhandenen Schriften stützen konnte, beschreibt darin Landschaften, Bauwerke und die Kulte in den von ihm bereisten Gegenden. 
Odeion des Agrippa in Athen: Das um 15 v. Chr. von den Römern erbaute und nach Marcus Vipsanius Agrippa benannte Gebäude, das 1000 Leuten Platz bot, wurde ursprünglich als Veranstaltungsort für Aufführungen und Wettkämpfe in Gesang und Instrumentalmusik sowie Vorträge genutzt. Nachdem Athen auf der anderen Seite der Akropolis mit dem im Jahr 161 n. Chr. von Herodes Atticus gestifteten Odeion ein Gebäude mit gleicher Funktion aber weit höherer Kapazität besaß, wurde das Odeion des Agrippa als Hörsaal für Philosophen genutzt. © Bild: Dimitris Tsalkanis: ancientathens3d.com
Universitäten im modernen Verständnis gab es in der Antike natürlich noch nicht, wohl aber zahlreiche hochschulähnliche Einrichtungen, an denen vor allem Philosophie, Rhetorik, aber auch Medizin und Rechtswissenschaften gelehrt wurden. Diese Bildungszentren befanden sich hauptsächlich im hellenistisch geprägten, weitgehend griechischsprachigen östlichen Mittelmeerraum. Neben Alexandria, Ausgangspunkt für klassische Studienreisen zu den ägyptischen Altertümern längs der großen Verkehrsachse des Nil, wo man auch das Grab Alexander des Großen und die weltberühmte Bibliothek besuchen konnte, übte zweifellos Athen eine starke Anziehungskraft auf die Söhne der begüterten römischen Familien aus. Hier, im Zentrum der hellenistischen Philosophie, hatten sich bekanntlich alle großen Philosophenschulen (die stoische Schule, die Lehre der Epikureer, der antike Skeptizismus, die Platonische Akademie, der Peripatos sowie der Kynismus) niedergelassen. Es verwundert daher nicht, dass die Stadt ihren Status als intellektuelles Zentrum des römischen Reiches und „Hauptstadt der Philosophie“ bis in die Spätantike halten konnte. Dies änderte sich erst, als der christliche Kaiser Justinian I. durch die von ihm befohlene Schließung der neuplatonischen Schule im Jahre 529 n. Chr. das Ende der Antike einläutete.
Die Hadriansbibliothek in Athen (Athener Universität): Seit dem 4. Jh. v. Chr. ziehen die philosophischen Studien zahlreiche Studenten von auswärts nach Athen. Auch in römischer Zeit war die Anziehungskraft Athens vor allem wegen des Glanzes seiner Rednerschulen und der großzügigen kaiserlichen Förderung des Lehrbetriebes ungebrochen. So ließ etwa Kaiser Hadrian, der ein ausgesprochener Philhellene war und mehrmals Athen besucht hatte, im Jahre 132 eine nach ihm benannnte Bibliothek erbauen. © Bild: ancientathens3d.com
In der Spätantike trat immer mehr Palästina, das „Heilige Land“, an die Stelle Griechenlands als vorrangiges Ziel einer Bildungsreise. Gebildete Christen wollten die Stätten des Wirkens Christi besuchen, jeder nur denkbare Zweifel der Gläubigen an der Wirklichkeit des Lebens Christi sollte zerstreut werden. Aber auch das Leben der frühchristlichen Mönche interessierte die Pilger, die sich dadurch eine weitere Stärkung ihres Glaubens erhofften. In der Endphase des römischen Reiches überflügelten diese Pilgerreisen, die von der Kirche in jeder Hinsicht gefördert wurden, alle anderen Formen des Reisens zum Zweck der Vermehrung von Erkenntnissen und Eindrücken.

Die Bildungsreise im Mittelalter
Das im Mittelalter vornehmlich vom Christentum geprägte geistige Klima stand den Bildungsreisen im antiken bzw. auch modernen Sinn eher feindselig gegenüber. So verortete etwa Kirchenvater Aurelius Augustinus, der für viele Jahrhunderte in der Kirche tonangebend bleiben sollte, in den menschlichen Sinnen Einfallstore für Sünde und Verderbtheit. Die „eitle und neugierige Sucht“, die Welt beobachten und selbst Erfahrungen machen zu wollen, wurde somit als Sünde (wenn auch nur eine, die nicht zum völligen Verlust der Gnade Gottes führt) gewertet. Das Reisen würde den Menschen zu sehr mit dem Materiellen in der Welt konfrontieren und somit von all dem ablenken, worin allein die Hoffnung auf Erlösung ruhe. Die Reisenden, so Augustinus, machten sich auf und „bestaunten die Gipfel der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breiten Wasserfälle des Flusses, die Größe des Ozeans und die Bahnen der Sterne, aber sie vergessen dabei sich selbst.“ (Leed) Für den gläubigen Christen war also die Wissbegierde ein Laster, allzugroße Liebe zur Welt und ein Streben nach moralisch unerwünschtem Wissen wäre jedenfalls abzulehnen. Diese Sichtweise wurde noch von Bernhard von Clairvaux im 12. und Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert geteilt und kräftig untertützt.

„Es gibt in der Seele (..) eine eitle und neugierige Sucht. Sie bezieht sich auf dieselben Sinne, will sie aber nicht fleischlich genießen, sondern will mit dem Fleisch Erfahrungen machen und versteckt sich unter dem Namen „Erkenntnis“ und „Wissenschaft“. (2)
Aurelius Augustinus

Allerdings hat sich ab dem 12. Jahrhundert die Mobilitätsbereitschaft einer bestimmten Gruppe privilegierter Menschen doch deutlich erhöht. Die Rede ist von den fahrenden Studierenden und Gelehrten, welche die weit verstreuten Klöster aufsuchen mussten, um die Schriften des Christentums aber auch der Antike studieren zu können. Diese Scholaren, die sich während ihrer Wanderschaft auf Jahrmärkten als Schreiber ihr Geld verdienen mussten, hatten schlicht keine andere Möglichkeit, die in den Klöstern gesammelten Texte in Augenschein zu nehmen und auch die Gelehrten kennenzulernen, die ihnen Texte verständlich machen konnten. Es gab damals ja noch keine Universitäten in unserem heutigen Verständnis.

Aus diesen Wandernotwendigkeiten entwickelte sich die sog. „peregrinatio academica“, die bildungsbedingte Mobilität von Studierenden und Gelehrten. Festmachen lässt sich diese Tradition am Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas von 1155, in dem den wandernden Studenten der Schutz des Kaisers und ein eigenständiger Rechtsstatus eingeräumt wurde. 

Etwa ab dem 14.Jahrhundert erkannten dann sowohl die weltlichen als auch die geistlichen Herrschern, dass von diesen Wissensträgern, die sich auch der Vorteile ihrer Unabhängigkeit voll bewusst waren, eine gewisse politische und religiöse Gefahr ausgehen konnte. Nicht zuletzt deshalb versuchte man durch die Gründung von Universitäten diese Gelehrsamkeit quasi sesshaft zu machen. Dadurch wurde zwar die peregrinatio academica etwas eingeschränkt, die rege Reisetätigkeit und Mobilität blieb aber dennoch ein fester Bestandteil im Leben mittelalterlicher Lehrender und Studierender.

Die Wissenschaft vom vernünftigen Reisen
Die humanistische Bildungsreform als Ergebnis des neuen Herangehens an die Dinge bewirkte eine erneute Rückbesinnung auf das antike Bildungsideal. Stand im Mittelalter noch die Stabilität im Mittelpunkt, drehte sich nun im Zeitalter der Renaissance dieses Verhältnis zu Gunsten der Mobilität. Auch die Furcht, dass die Neugier zu destruktiven Erfahrungen und schlimmstenfalls sogar zur Häresie führen würde, verblasste zunehmend. Langsam setzte sich wieder die griechisch-römische Auffassung durch, dass die Lust, Neues zu erfahren und zu erleben, sich zu bilden und seine Persönlichkeit dadurch reifen zu lassen, wichtige Aspekte des menschlichen Lebens sind. 
Schon ab dem 15. Jahrhundert begann man, die Neugier (curiositas) neu zu legitimieren. Man beschäftigte sich damit, inwieweit das Reisen die Intelligenz schärfe und zu einer Vollendung der Bildung beitragen kann bzw. als „angenehme Belehrung“ empfohlen werden kann. 

„Jeder Geist, so aufgeschlossen er auch sein mag, wird notwendig stumpf und stirbt sogar, wenn er innerhalb der engen Grenzen seiner festen Behausung gefangen bleibt.“ (2)
Hermann Kirchner 

Man eiferte damit in gewisser Hinsicht dem Beispiel der wandernden Philosophen der Antike nach, indem man versuchte, ein allgemeines Bild von der Welt jenseits der von der Kirche vorgegebenen Grenzen zu formulieren. Diese neue Rechtfertigung des Reisens wurde vor allem durch Erasmus von Rotterdam geprägt. Er sprach sich damit insbesonders gegen die traditionellen Pilgerfahrten aus, die seiner Meinung nach „nutzlos, kostspielig und für die Sitten verderblich“ waren.(3) 
Erasmus von Rotterdam: Portrait of Desiderius Erasmus after Hans Holbein (II) Mauritshuis 279.
© Wikimedia Commons
In einer Zeit der geistigen Befreiung aus dem starren kirchlichen Gedankenkorsett des Mittelalters versprach jede Reise einen Erkenntnisgewinn. Man nahm die Strapazen des damals noch ziemlich beschwerlichen Reisens bewusst auf sich, um die Welt entdecken, verstehen und schließlich auch beschreiben zu können. Deswegen kam es in Mode, sich auf diese Reisen penibel – mit System und Methode - vorzubereiten. Das Reisen wurde als eine Art Kunstfertigkeit begriffen, die man erlernen und durch konsequente Übung auch perfektionieren kann. Aus diesen Überlegungen heraus entstand eine Art Wissenschaft vom Reisen, die das Unterwegssein auf ein akademisches Niveau heben wollte. 

Als ein sehr frühes Beispiel so einer Theorie des akademischen Reisens gilt das 1577 in Ingolstadt gedruckte und auf den Theoretiker der Reisekunst Dr. Hilarius Pyrckmair zurückgehende Werk mit dem Titel „Commentariolus de arte apodemica seu vera peregrinandi ratione“. Dieses Buch schöpft aus den reichhaltigen Erfahrungen des Autors, der schon als Jurastudent eine erstaunliche europäische Karriere hinter sich gebracht hatte, ist zugleich aber auch auf einen konkreten Reisezweck hin ausgelegt. Das in leicht lesbarem Latein geschriebene und nur 77 Seiten umfassende Büchlein, das problemlos in jede Reisetasche passte, fungierte als Reisebegleiter für die herzoglich-bayerischen Räte, die in Italien zu tun hatten.

Diese Reisewissenschaft – die sog. „Ars apodemica“ bzw. kurz „Apodemik“ (abgeleitet vom griechischen apo-dhmeo („auf Reisen sein“) – beschäftigte sich einerseits mit der literarischen Auseinandersetzung mit all dem, was mit dem Reisen zu tun hat (Reiseinstruktionen, Reisejournale, Zusammenfassung des zusammengetragenen Wissens in enzyklopädischer Form) und andererseits mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Fragen, die sich rund um eine Theorie des Reisens ergeben. Die durch diese Apodemiken gewonnenen Informationen, in denen auch die als gültig erachteten Lehren zum richtigen Reisen zusammengefasst waren, wurden katalogisiert und sortiert. Diese solcherart entstandenen Wissenssammlungen kann man als die ersten Vorläufer der späteren Enzyklopädien bezeichnen.
  • Apodemische Reiseinstruktionen

    + Definition des Begriffs „Richtiges Reisen“


    + Diskurs über Nutzen und Schaden des geplanten Unternehmens


    + Ratschläge für den Reisenden:

    • Praktischer Teil: Informationen zu Reisezeiten, Reiserouten, allgemeine Verhaltensregeln, Hinweise zur Ernährung, allgemeine Tipps
    • Theoretischer Teil: Fragenkatalog, der die Aufzeichnungen über „Merkwürdiges“ und „Sehenswürdiges“ erleichtern soll

    + Reisejournale:

    • Persönlicher Teil: Ereignisse und Erfahrungen in der Reihenfolge ihres Auftretens
    • Enzyklopädischer Teil: Geografisches, historisches, völkerkundliches und sozialwissenschaftliches Wissen über Menschen, Orte und Regionen

    + Zusammenfassung und kritische Reflexion der Ergebnisse 


Die Reisen der Kavaliere
Seit dem 15. Jahrhundert setzte sich in der englischen Oberschicht der Brauch durch, den Nachwuchs im Rahmen der adeligen Standesbildung ins Ausland zu schicken. Diese nicht unbedingt auf das praktische Lernen, sondern auf Charakterbildung und die Aneignung eines den Adel ausweisenden Auftretens konzipierten Reisen wurden meist am Ende der Ausbildung angesetzt, um den jungen Adeligen damit den „letzten Schliff“ zu verleihen. Bei diesen Reisen sollten sie sowohl fremde Höfe und bedeutende Vertreter ihres Standes kennenlernen als auch ihre erlernten Fähigkeiten bei Turnieren, Tanz und allen Formen der höfischen Unterhaltung unter Beweis stellen. Manchmal war damit auch ein Besuch einer fremdländischen Universität oder Akademie verbunden. 

Ziel und Zweck dieser Unternehmungen, die sich sehr bald zu einem ausgefeilten System entwickelten, waren bald genau umrissen. Es ging darum, „handfeste Erkenntnisse zu erlangen und nützliche Erfahrungen zu machen, um so als guter Diener Ihrer Majestät zurückzukommen.“ Die Reisen sollten unternommen werden, nicht um von „Weinen, sondern von den verschiedenen Regierungsformen zu kosten; nicht Samtstoffe und Spitzen, sondern Gesetze und politische Systeme (zu) vergleichen“ (Brilli).
Porträt von Sir Francis Bacon: Frans Pourbus (1617), Łazienki-Palast Warschau. © Wikimedia Commons
Einen Aufschwung erlebte diese in England als „Grand Tour“ und auf dem Kontinent als „Kavalierstour“ bekanntgewordene mehrjährige Bildungsreise der Sprösslinge des europäischen Adels Ende des 17. Jahrhunderts. Mittlerweile fand nämlich die aus England kommende Mode auch in vielen anderen Ländern Anklang. Sowohl bei den englischen als auch deutschen Kavalieren (frz. chevalier, ital. caveliere – ein Mann adeliger Herkunft) standen Italien und Frankreich ganz oben auf der Liste der zu besuchenden Länder. Die Kavalierstour entwickelte sich immer mehr zu einer biographischen Notwendigkeit, einer Voraussetzung dafür, dass man später eine leitende Funktion in Politik und Verwaltung einnehmen konnte. 

Schon die notwendigen Vorbereitungen, die notwendig waren, eine Kavalierstour in Angriff zu nehmen, wurden als höchst nützliche Bildungsanstrengungen angesehen. Es galt nämlich Sprachen, vor allem Italienisch und Französisch, zu lernen und auch die Lateinkenntnisse aufzufrischen. Da das Bildungsprogramm dieser großen Touren ziemlich umfangreich angelegt war, bediente man sich sehr häufig der Dienste eines dafür speziell qualifizierten Privatlehrers, der nicht nur für die Unterkunft und Verpflegung Sorge zu tragen, sondern auch dem ihm anvertrauten Schützling bei allen Problemen des Wissenserwerbs zur Seite zu stehen hatte. Diese Privatlehrer machten sich Gedanken über sie verschiedenen Optionen bei der Reiseplanung und konzipierten eigene Lehrpläne, die den jungen Kavalieren helfen sollten, den Wust an neuen Eindrücken besser verarbeiten zu können. 
Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth: Antoine Pesne, Residenzschloss Ludwigsburg. © Wikimedia Commons
Fern von der Heimat konnten naturgemäß die jungen Männer nicht nur fremde Völker, Sitten und Gebräuche kennenlernen. Auch Kontakte mit dem anderen Geschlecht ließen sich viel leichter als im beschützen und kontrollierten heimatlichen Umfeld arrangieren. Dass sich diese Aktivitäten in gewissen Grenzen und einem pädagogisch vertretbaren Rahmen hielten, hatten auch mit den Apodemiken zu tun. Die Kavaliere hatten ja schließlich Tagebücher zu verfassen, Aufzeichnungen zu machen, Briefe zu schreiben. Indem sie die in der Ferne gemachten Beobachtungen schriftlich festhielten, schufen sie gleichsam wieder neue Apodemiken. Der dadurch entfachte Ehrgeiz konnte in dem einen oder anderen Fall wohl die allerorts auf die Jungspunde einprasselnden Eindrücke in geordnete Bahnen lenken.

Der Beginn der Bildungsreise im modernen Sinn
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde das äußerst kostspielige und aufwendige Reisen immer leichter, preiswerter und sicherer. Voraussetzung dafür war der Aufbau eines europäischen Postkutschennetzes, was eine bis dahin nicht gekannte Mobilität ermöglichte. Nun konnten auch begüterte Reisende, die aus den Reihen des aufstrebenden Bürgertums kamen, solche Touren, die früher nur den Adeligen vorbehalten waren, in Angriff nehmen. Die Beweggründe dazu haben sich jedoch deutlich geändert. Wollte man bislang „wahre Männer von Welt“ und zukünftige Diplomaten heranziehen, stand nunmehr einerseits die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit und anderseits die politisch-kulturelle Verbesserung des persönlichen Lebensraumes im Mittelpunkt des Interesses. 
Rückkehr der Grafen Stadion von einer Kavaliersreise: Viele Adelige benutzten für die Grand Tour eine eigene Kutsche. Bild: © Wikimedia Commons
Die Kavalierstour in ihrer klassischen Form als Komplettierung der adeligen Standesbildung ging somit im späten 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Bildungsreise moderner Prägung über. Sogar Frauen, wenn auch in Begleitung von Ehemännern bzw. der gesamten Famile, machten sich auf, die „Merkwürdigkeiten“ anderer Länder kennenzulernen. Während die Adeligen für ihre Reisen eine eigene Kutsche samt Kutscher und Kurier, der die Aufgabe hatte, vorauszureiten und bei der nächsten Poststation den Pferdewechsel und die Quartiernahme vorzubereiten, benutzten, konnten betuchte Bürgerliche Postkutschen der Ordinari-Post nehmen.
Vollziehen Sie Goethes Italienische Reise anhand der dort erwähnten Orte bei HISTORIC TRAVELER nach. 
Die „Italienische Reise“ Goethes gilt, zumindest im deutschsprachigen Raum, als der Inbegriff der Bildungsreise im modernen Sinn. In dem Zusammenhang ist es sicherlich erwähnenswert, dass schon der Vater des berühmten Sohnes, Johann Caspar Goethe, knapp ein halbes Jahrhundert vor dessen Reise nach Italien eine Kavalierstour ebendorthin unternommen und danach die Räume seines Hauses mit mitgebrachten „Prospekten“ ausgeschmückt hatte. Die Phantasie des jungen Johann Wolfgang wurde dadurch mit Sicherheit schon sehr früh in eine gewisse Richtung gelenkt. Wie wir aus dem Reisebericht, in dem der schon etwas in die Jahre gekommene Goethe seinen Aufenthalt in dem Land seiner Träume zwischen September 1786 und Mai 1788 beschreibt, erfahren, wollte er überprüfen, ob seine Vorstellungen auf Wahrheit oder eher auf Illusion beruhen. Er wollte durch „Aneignung und Durchdringung einer neuen Natur,neuer menschlicher Verhältnisse“ eine neue Kultur suchen und damit das eigene Lebensgefühl ausweiten, vertiefen und steigern. Sein Ziel war das „Klassische“: „die sinnlich geistige Überzeugung, dass hier das Große war, ist und sein wird.“. Er war fortwährend auf der Suche nach einem Glücksgefühl, das sich seitdem so ziemlich alle Bildungsreisenden zum Vorbild genommen haben: „Alle Tage ein neuer merkwürdiger Gegenstand, täglich frische, große seltsame Bilder und ein Ganzes, das man sich lang denkt und träumt, nie mit der Einbildungskraft erreicht.“ Bei dieser Reise, bei der Betrachtung des idealen Menschenbildes, das sich ihm in den antiken Statuen bzw. den Kunstwerken der Renaissance offenbarte, kam er zu dem Schluss, dass Kunst nichts anderes sei als Natur auf ihrer höchsten Stufe.

 „Ich mache diese wunderbare Reise nicht, um mich selbst 
zu betrügen, sondern um mich an den 
Gegenständen kennzulernen.“(4)
Johann Wolfgang von Goethe


Der Bildungstourismus im Industriezeitalter
Die technischen und organisatorischen Innovationen, die die Industrielle Revolution mit sich brachten (etwa die Schaffung eines dichten Eisenbahnnetzes und die Schaffung einer sicheren Linienschiffahrt) , verbilligten die Reisen und verbesserten deren Planbarkeit. Dies führt zu einer voher nie gekannten Ausweitung aller Reiseformen. War früher eine Bildungsreise im Stil einer Kavalierstour meist nur den Söhnen reicher Adelsfamilien vorbehalten, konnten sich mit der Schaffung von Massenverkehrsmittel immer breitere Schichten des Bürgertums den Luxus einer Bildungsreise leisten. Damit spielten die Hauptfaktoren, die bisher das Reisen bestimmt und behindert hatten, nämlich die räumlichen Entfernungen und die Zeit, die man benötigte, von A nach B zu kommen, eine immer geringere Rolle. Mit der Etablierung des modernen Flugverkehrs sollten Raum und Zeit dann weiter an Bedeutung verlieren. 

Dadurch, dass das schnelle und bequeme Reisen großer Menschenmengen Wirklichkeit geworden war, wuchs der Bedarf nach einer völlig neuen Dienstleistung, nämlich dem Reisevermittlungs- und Reiseveranstaltungsgewerbe. Das Entstehen dieses Gewerbezweiges ist eng mit dem Wirken des englischen Baptistenpredigers und Tischlers Thomas Cook (1808 – 1892) verbunden, der nicht nur das erste moderne „Reisebüro“ eröffnet, sondern auch auch üblichen Leistungen und Organisationsformen eines Reiseveranstalters entwickelt hat. 1841 organisierte er die ersten verbilligten Gesellschaftsreisen, 1860 führte er mit mit großem Erfolg seine „Große Rundreise über den Kontinent“ durch. Man kann diesen Pionier der Reiseveranstalter durchaus auch als Begründer der Studienreisen in unserem heutigen Sinn bezeichnen, schließlich führten die von ihm angebotenen Touren nahezu ausschließlich zu den damals bekannten Kunstwerken der Antike. Diese Veranstaltungen haben schon sehr früh die Ziele und Merkmale einer Bildungsreise aufgenommen, die im 19. Jahrhundert als eine Verbindung humanistischer Interessen mit romantischen Naturlerlebnissen definiert wurden.

Diese Reisen nach dem neuen Stil unterscheiden sich jedoch von den großen Touren vergangener Zeiten dadurch, dass sie nicht mehrere Monate oder sogar Jahre dauern, sondern maximal solange, wie der gesetzlich zustehende Urlaub eben dauert. Außerdem dienen sie nicht mehr dem Abschluss einer Standesbildung oder einer beruflichen Qualifikation, sondern vielmehr dem Reisevergnügen und dem Genuss möglichst vielfältiger Eindrücke und Erlebnisse. Auch wird dabei weitgehendst auf die lange Vorbereitungszeit vor Antritt der Reise und das aktive Studium während der Reise verzichtet. Dem Vorbild der Kavalierstour blieb man aber insoweit treu, als deren Ziele (Italien, Frankreich, Griechenland) und deren Inhalte (Denkmäler der Kunst und Kultur) übernommen wurden und man den Schwerpunkt mehr auf die Vergangenheit als die Gegenwart dieser Länder legt. 


ANMERKUNGEN

(1) Lassels, Richard: An Italian Voyage, London 1670. In: Brilli, Attilio, Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die „Grand Tour“. Wagenbach (1997)
(2) Hermann Kirchner, zit. nach Eric. J. Leed: Die Erfahrung der Ferne: Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage. Campus (1993) 
(3) Erasmus von Rotterdam: Familiarum Colloquiorum Opus. Basel 1542, De utilitate colloquiorum, as lectorum
(4) Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise: vollständige Ausgabe mit Illustrationen. Nikol (2017) 

BILDNACHWEIS
  • Titelbild: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein - Goethe in the Roman Campagna: Google Art Project. © Wikimedia Commons
  • Herodot-Statue auf der Rampe des Parlaments in Wien: Wienwiki / Walter Maderbacher: Herodot-Statue auf der linken Rampe des Parlaments: griechische Seite © Wikimedia Commons
  • Rekonstruktion einer Herberge im ArchäologischenPark Xanten: © Kavalierstour. Mit freundlicher Genehmigung: LVR-Archäologischer Park Xanten
  • Odeion des Agrippa in Athen: © Dimitris Tsalkanis: www.AncientAthens3d.com
  • Die Hadriansbibliothek (Athener Universität) in Athen: © Dimitris Tsalkanis & Chrysanthos Kanellopoulos: www.AncientAthens3d.com
  • Erasmus von Rotterdam: Portrait of Desiderius Erasmus after Hans Holbein (II) Mauritshuis 279. © Wikimedia Commons
  • Porträt von Sir Francis Bacon: Frans Pourbus (1617), Łazienki-Palast Warschau. © Wikimedia Commons
  • Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth: Antoine Pesne, Residenzschloss Ludwigsburg. © Wikimedia Commons
  • Tischbein: Rückkehr der Grafen Stadion von einer Kavaliersreise: © Bild: Wikimedia Commons
  • Johann Heinrich Wilhelm Tischbein - Goethe in the Roman Campagna: Google Art Project. © Wikimedia Commons
BUCHEMPFEHLUNGEN
  • Renate Hücking: Unterwegs zu den Gärten der Welt. Insel Verlag (2018)
  • Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war: Vom Beginn des modernen Tourismus: Die 'Grand Tour'. Wagenbach (1997)
  • Joseph Imorde u. Erik Wegerhoff: Dreckige Laken - Die Kehrseite der Grand Tour. Wagenbach (2018)
  • Elis Karlpeter (Hrsg.): bildungsreise – reisebildung. LIT (2004)
  • Eric J. Leed: Die Erfahrung der Ferne: Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage. Campus (1993)
  • Uwe Neumann: Augustinus. Rowohlt (2018)
  • Stephanie Irrgang: Peregrinatio Academica: Wanderungen und Karrieren von Gelehrten der Universitäten Rostock, Greifswald, Trier und Mainz im 15. Jahrhundert. Franz Steiner (2002)
  • Alois Schmid (Hrsg.): Von Bayern nach Italien: Transalpiner Transfer in der Frühen Neuzeit. Kommi-sionsverlage CHB g/s. (2010)
  • Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise. Nikol (2017)
  • Thomas Freller: Adlige auf Tour. Thorbecke (2007)
  • Johann Caspar Goethe: Reise durch Italien im Jahre 1740. Beck (1993)
  • Heinz Hahn (Hrsg.): Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismus-wissenschaft. Quintessenz (1996)
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