DIE GRAND TOUR
Die Bildungsreise des Adels
In der Zeit vor dem Aufkommen des modernen Tourismus wurde das Reisen innerhalb der europäischen Oberschichten primär als Instrument der Bildung und Persönlichkeitsbildung betrachtet. Seit dem 15. Jahrhundert entstand in der englischen Oberschicht die Tradition, junge Adelige nach ihrer Ausbildung auf eine längere Reise ins Ausland zu schicken. Diese Unternehmung, die später als Grand Tour bekannt wurde, sollte weniger dem praktischen Lernen als der Charakterbildung und der Aneignung einer kultivierten Lebensart dienen.
Die Grand Tour – Bildung auf Reisen
Zwischen dem 17. und frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich die Grand Tour zu einem festen Bestandteil der adeligen Erziehung. Sie war keine Urlaubsreise, sondern ein pädagogisches und gesellschaftliches Ritual: Junge Männer sollten die Welt kennenlernen, politische und kulturelle Zusammenhänge verstehen und sich zugleich als zukünftige Führungspersönlichkeiten bewähren. Ein Zeitgenosse beschrieb den Sinn dieser Reisen treffend: Man solle reisen, „nicht um von Weinen, sondern von den verschiedenen Regierungsformen zu kosten; nicht Samtstoffe und Spitzen, sondern Gesetze und politische Systeme vergleichen“. Ziel war also, Bildung, Welterfahrung und gesellschaftliche Reife zu vereinen.
Ziele und Inhalte der Grand Tour
Nach dem Abschluss ihrer schulischen oder universitären Ausbildung sollten die jungen Reisenden das Gelernte in der Realität erproben und ihren Blick auf die Welt erweitern. Auf dem Programm standen:
- das Studium der Kunst und Architektur der Antike,
- die Begegnung mit den Idealen der Klassik,
- die Vertiefung der Sprachkenntnisse,
- und die Pflege höfischer und gesellschaftlicher Kontakte.
Besonders Italien galt als das Ziel schlechthin. Städte wie Rom, Florenz, Neapel und Venedig wurden zu Etappen einer Reise, auf der man den „wahren Geschmack“ und das „klassische Ideal“ verinnerlichen sollte. Auch Frankreich war ein wichtiges Ziel, da dort Sprache, Etikette und Diplomatie gepflegt wurden.
Vor der Abreise mussten sich die jungen Kavaliere sorgfältig vorbereiten: Sie lernten Italienisch und Französisch, wiederholten Latein und machten sich mit Geschichte und Kunst vertraut. Meist reisten sie mit einem Privatlehrer oder Mentor, der die Route plante, für Unterkunft und Sicherheit sorgte und beim Lernen half.
Lernen, Erleben und Reflektieren
Während der Reisen besuchten die Grand-Touristen Höfe, Universitäten, Ausgrabungsstätten und Kunstsammlungen; sie führten Gespräche mit Gelehrten, Künstlern und Archäologen und nahmen an gesellschaftlichen Ereignissen teil. Viele hielten Eindrücke in Reisetagebüchern und Skizzen fest, sammelten Bücher, Zeichnungen oder antike Objekte. In der fachlichen Forschung werden die Ratgeber- und Reisetexte dieser Epoche oft unter dem Begriff ars apodemica bzw. apodemica zusammengefasst – sie regelten, wie man beobachtete, sammelte und reflektierte.
Neben Bildung und Kultur bot die Grand Tour auch Freiheit und Abenteuer: In der Fremde konnten die jungen Männer Erfahrungen machen, die im geschützten Umfeld der Heimat unmöglich gewesen wären. Doch trotz dieser Freiheiten blieb die Reise ein Erziehungsprojekt, das Selbstdisziplin und Verantwortungsbewusstsein fördern sollte.

Johann Joachim Winckelmann (hier im Kreise der Gelehrten in der Bibliothek des Schlosses Nöthnitz) verkörperte den geistigen Höhepunkt der Grand Tour. Er reiste nach Rom, um die Kunst der Antike zu studieren, und machte die klassische Schönheit zum Maßstab europäischer Bildung. Mit seiner „Geschichte der Kunst des Altertums“ gab er der Begeisterung für Griechenland und Rom eine wissenschaftliche Grundlage und prägte das Denken des Klassizismus. Winckelmann verwandelte die adelige Bildungsreise in ein intellektuelles Unternehmen – vom Sehen zum Verstehen, vom Sammeln zum Begreifen. © Bild: Wikimedia Commons
Kulturtransfer und europäische Wirkung
Die Grand Tour war mehr als eine individuelle Bildungsreise – sie wurde zu einem europäischen Kulturprojekt. Die Reisenden brachten neue Ideen, Kunststile und wissenschaftliche Erkenntnisse mit nach Hause. Sie beeinflussten Architektur, Kunstsammlungen und Bildungsideale in ganz Europa. Viele bedeutende Museen, wie das British Museum in London oder die Antikensammlungen in München, verdanken ihre Entstehung den Sammlungen und Erfahrungen der Grand-Tour-Reisenden. Die Bewegung trug entscheidend dazu bei, dass sich in Europa eine gemeinsame Vorstellung von Kultur, Bildung und ästhetischem Geschmack entwickelte – eine frühe Idee von Europa als gemeinsamem Kulturraum.
Die Society of Dilettanti – Erben der Grand Tour
In England führte die Grand Tour auch zur Gründung einer besonderen Vereinigung: der Society of Dilettanti. Sie entstand in den 1730er Jahren in London, gegründet von einer Gruppe adeliger und gebildeter Männer, die selbst auf der Grand Tour gewesen waren. Der Name – aus dem Italienischen dilettare, „sich erfreuen“ – zeigt, worum es ihnen ging: um die Freude an Kunst, Bildung und klassischer Kultur. Was zunächst als geselliger Kreis ehemaliger Reisender begann, entwickelte sich bald zu einer einflussreichen kulturellen Institution. Die Mitglieder wollten die Erfahrungen und Eindrücke ihrer Reisen nicht nur bewahren, sondern auch weitergeben. Sie förderten archäologische Expeditionen nach Italien, Griechenland und Kleinasien, um die Überreste der Antike zu erforschen und zu dokumentieren. Berühmt wurde etwa die von der Society unterstützte Arbeit von James Stuart und Nicholas Revett, deren Werk „The Antiquities of Athens“ die Kenntnis griechischer Architektur in ganz Europa verbreitete und den Klassizismus entscheidend prägte.

Die Dilettanti verbanden Bildung mit Geselligkeit und Genuss – ganz im Geist der Grand Tour. In ihren Treffen mischten sich Diskussionen über Kunst und Wissenschaft mit Humor, Wein und Witz. So wurde die Society of Dilettanti zum Symbol eines neuen europäischen Bildungsideals: gebildet, kultiviert und weltoffen. © Bild: Wikimedia Commons
Darüber hinaus setzte sich die Society of Dilettanti für den Aufbau und die Förderung von Kunstinstitutionen in Großbritannien ein, etwa der Royal Academy of Arts und des British Museum. Damit half sie, das klassische Bildungsideal der Grand Tour in dauerhafte kulturelle Strukturen zu überführen.
Vom Privileg zur allgemeinen Bildungsreise
Im 19. Jahrhundert, mit dem Aufstieg des Bürgertums, wandelte sich die Grand Tour. Was einst ein Privileg des Adels war, wurde nun auch für wohlhabende Bürger möglich. Aus der adeligen Bildungsreise wurde das Ideal der bürgerlichen Bildungsreise – ein Vorläufer der heutigen Studien- und Kulturreisen.

Johann Wolfgang von Goethe: Seine Italienische Reise (1786–1788) ist eine bürgerlich-intellektuelle Neuinterpretation der Grand Tour. Anders als die adeligen Repräsentationsreisen suchte Goethe weniger sozialen Glanz als künstlerische und geistige Vollendung; seine Reise verbindet aufklärerische Anschauung mit einem neuen, subjektiven Bildungsideal und markiert so eine humanistische Umorientierung der Reisetradition. © Bild: Wikimedia Commons
Damit steht die Grand Tour am Anfang einer langen Entwicklung: vom Erziehungsritual des Adels zur modernen Idee des Reisens als Weg zur Bildung, Selbsterfahrung und Verständigung zwischen den Kulturen.
👉 Geschichte der Bildungsreise von der Antike bis heute
BILDNACHWEIS:
- James Russel (1720–1763): British Connaisseurs in Rome. © Bild: Wikimedia Commons
- Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), Signatur/Inventar-Nr.: 130, 17 (Kunstbesitz) und Deutsche Fotothek: Winckelmann im Kreise der Gelehrten in der Bibliothek des Schlosses Nöthnitz, Theobald Reinhold von Oër (1807-1885), Aufnahme Regine Richter, 1982. © Bild: Wikimedia Commons
- Joshua Reynolds (1723–1792): Porträt der Society of Dilettanti. © Bild: Wikimedia Commons
- Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829): Goethe in der Campagna. © Bild: Wikimedia Commons




