Antike Lebenskunst

Antike Lebenskunst
technê tou biou - ars vivendi
Heute versteht man unter „Lebenskunst“ meist, dass jemand sein Leben mit geradezu spielerischer Leichtigkeit meistern und aus allen erdenklichen Situationen das jeweils Beste herausholen kann. Zudem wird mit diesem Begriff auch das französische Savoir-vivre, die raffinierte Kunst, das Leben auf gehobenem Niveau zu genießen, in Verbindung gebracht. Aber nicht der Sonnenkönig Ludwig XIV., auf den sich die Genießer und Kenner der gehobenen Lebensart so gerne berufen, war es, der als erster darüber nachdachte, wie man sein eigenes Leben als Kunstwerk gestalten kann. Mit dieser Frage hatte man sich nämlich schon viel früher auseinandergesetzt. 
So stellte z.B. Sokrates schon vor gut 2500 Jahren die Behauptung auf, man könne sich auf rationaler Grundlage und mit Hilfe philosophischer Übungen einer angemessenen, glücklichen und vorteilhaften Lebensform annähern. Dabei spielten Begriffe wie eudaimonía („Glückseligkeit“, „seelisches Wohlbefinden“), hēdonḗ („Freude“, Vergnügen“, „Lust“) oder euthymia („Wohlgemutheit“) eine große Rolle. Als sich dann im Laufe der darauffolgenden Jahrhunderte die philosophische, rhetorische und wissenschaftliche Bildung enorm verbreiten konnte, beschäftigten sich die Menschen immer intensiver damit, wie man diese ars vivendi („die Kunst zu leben“ bzw. „die Kunst des Lebens“) erlernen könne. 

„Die Philosophie beruht nicht auf Worten, sondern auf Handlungen. Sie formt und gestaltet den Geist, ordnet das Leben, lenkt die Handlungen, zeigt, was man tun oder unterlassen muss." (1) 


Die Scholarchen der verschiedenen Philosophenschulen versuchten daher ihre Schüler bzw. Anhänger der von ihnen vertretenen philosophischen Strömungen dazu anzuleiten, ihr eigenes Leben bewusst wahrzunehmen, über das Wahrgenommene zu reflektieren und auf der Basis dieser Erkenntnisse ihr Leben aktiv und gezielt zu gestalten. Dabei nahm übrigens auch die ars moriendi („die Kunst des Sterbens“) eine nicht unbeträchtliche Stellung ein. Schließlich gehört zur Freude am Leben auch das Wissen um unsere Sterblichkeit dazu. 


Die Selbstprüfung

Der Kyniker Diogenes von Sinope (ca. 413 - ca. 323 v. Chr.), der vor allem durch die bekannte Anekdote, in der er angeblich Alexander dem Großen begegnet sei („Geh mir nur ein wenig aus der Sonne“), eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, soll einmal gefragt haben: „Wie wird man sein eigener Lehrmeister?“ Die Antwort , die er sich selbst auf diese rhetorische Frage gab, lautete sinngemäß: „Wenn man das, was man an anderen tadelt, am meisten an sich selbst tadelt.“(2) Mit der daraus resultierenden Forderung, dass man sich im Zuge einer regelmäßigen „Selbsterforschung“ seine eigenen Fehler eingestehen sollte, stand er dann beileibe nicht alleine da. Bei den Anhängern des Epikur (ca. 341 - ca. 270 v. Chr.) gab es sogar so etwas wie eine feste Institution eines Schuldbekenntnisses, oder - wie wir es heute nennen würden - einer Beichte. Unter vier Augen wandte sich der Schüler dabei an den Meister, und bekannte in einem quasi therapeutischen Gespräch seine Verfehlungen und Schwächen. Das Ziel der Unternehmung bestand allerdings - anders als wir das von der aus dem Christentum bekannten „Beichte“ kennen - allein darin, durch die Feststellung der eigenen Verfehlungen eine Besserung und Neuaufstellung zu erreichen. 


„Beschuldige dich, so sehr du kannst; führe Ermittlungen gegen dich durch! Nimm zunächst die Rolle des Anklägers ein, dann die des Richters und zuletzt die des Verteidigers! Füge dir gelegentlich selbst einen Hieb zu!“ (3)


In den Philosophenschulen der Antike galten demnach Selbstanklage, Selbstrelativierung und Selbstdistanzierung als wichtige Lernziele. Es war aber nicht unbedingt notwendig, sich selbst andauernd so laut zu beschimpfen, wie dies Kleanthes (ca. 331 - ca. 232 v. Chr.) getan hat, der auf die Frage, auf wen er schimpfe, geantwortet haben soll: „auf einen alten Mann mit grauen Haaren , aber ohne Verstand.“(4) Ich persönlich halte mich da lieber an Seneca (ca. 1 - 65 n. Chr.), der lediglich auf die Vorteile, die mit einer Selbstprüfung einhergehen, hinweist: „Was kann es Schöneres geben als diese Gewohnheit, den ganzen Tag zur Prüfung an sich vorüberziehen zu lassen? Und was für ein Schlaf folgt auf diese Selbstschau, wie ruhig, wie tief und frei, wenn die Seele entweder ihr Lob oder ihre Mahnung erhalten hat und als ihr geheimer Beobachter und Richter sich Rechenschaft gegeben hat über ihr sittliches Verhalten?“(5)


Die Wertschätzung

Sofern man den Aussagen des Sophisten Antiphon Glauben schenken möchte, soll es schon im 5. Jhdt. v. Chr. Menschen gegeben haben, die „das tägliche Leben nicht leben, sondern sich mit viel Eifer vorbereiten, ein anderes Leben zu leben, nicht das gegenwärtige; und unterdessen geht ihnen die verbleibende Zeit dahin."(6) Der Ratschlag, den er diesbezüglich parat hatte, unterscheidet sich kaum von dem, was man heutzutage von einem gängigen (allerdings nicht kirchlich beeinflussten) Lebenshilfe-Seminar mit auf den Weg bekommt: Erhöhen Sie Ihre Genuss- und Erlebnisfähigkeit, erfreuen Sie sich an Kleinigkeiten, leben Sie im Augenblick.


Der ebenfalls zu den Vorsokratikern zählende Naturphilosoph Demokrit (ca. 460 - ca. 370 v. Chr.), der der Meinung war, dass ein „Maßhalten im Vergnügen“ zu einem ausgeglichenen Zustand der Seele führe, riet aus dem Grund dazu, „auf das Mögliche seinen Sinn“ zu richten und sich „mit dem Gegebenen zu begnügen“. Seiner Meinung nach sollte man „nicht viel Aufhebens von denjenigen machen, die Neid und Bewunderung hervorrufen, noch sich in Gedanken mit ihnen abgeben, vielmehr auf die den Blick richten, die im Elend leben, und sich vergegenwärtigen, wie sehr sie leiden, damit das, was man besitzt und worüber man verfügt, groß und erstrebenswert erscheine.“ (7) 


„Wir werden nur ein einziges Mal geboren; zweimal geboren zu werden , ist nicht möglich. Eine ganze Ewigkeit hindurch werden wir nicht mehr sein.

Du aber schiebst das, was Freude macht, auf, obwohl du nicht einmal Herr bist über den morgigen Tag.“ (8)


Der Bestsellerautor und Philosoph Seneca (ca. 1 - 65 n. Chr.) empfiehlt, dass man jeden Tag mit dem Bewusstsein leben sollte, er sei der letzte. Vor ihm forderte schon der Dichter Horaz (65 - 8 v. Chr.) seine Zeitgenossen auf, die knapp bemessene Lebenszeit zu genießen und nichts auf den nächsten Tag zu verschieben. Eine Sentenz aus einem von ihm verfassten Gedicht, das bekannte „Carpe diem“, welches man in etwa mit „Genieße den Tag“ oder wörtlich „Pflücke den Tag“ übersetzen kann, wird Ihnen in dem Zusammenhang wohl nicht ganz unbekannt sein.


Das Memorieren

Zu den von den verschiedenen Philosophenschulen angewandten Methoden gehörte auch, die Übenden anzuleiten, philosophische Selbstgespräche zu führen. Vor allem bei den Stoikern und Epikureern gehörte dazu auch das Auswendiglernen (Memorieren) von Lehrsätzen, allgemeinen Regeln und Einzelanweisungen in einer komprimierten Zusammenfassung. Dabei ging es aber nicht darum, diese Texte einfach nur zu lernen und dann einem Lehrer aufzusagen, der bloß die Genauigkeit der Wiedergabe kontrolliert. Die Autoren dieser Lehrsätze wollten vielmehr damit ihre Schüler motivieren, sich mit den darin enthaltenen Lehrinhalten intensiv auseinander zu setzen und diese geistig zu durchdringen. So empfahl etwa Epikur (ca. 341 - ca. 270 v. Chr.) seinen Anhängern die 40 Hauptlehrsätze (Kyriai doxai) der epikureischen Lehre nicht bloß fehlerfrei wiedergeben zu können, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie sollten auch danach leben. Besondere Bedeutung kam in dem Zusammenhang einer besonders kurzen Zusammenfassung der epikureischen Lebenshaltung, der sog. „Vierfachen Medizin“ (Tetraphármakos) zu. Die darin enthaltene Formel lautet sinngemäß: Fürchte dich nicht vor Gott, fürchte dich nicht vor dem Tod, das Gute ist leicht zu beschaffen und das Schlimmste ist leicht zu ertragen.

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Die Kraft der Vorstellung

Schon sehr lange bevor sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, die ganz gern den sog. Imaginationen einen zentralen Stellenwert im therapeutischen Geschehen einräumt, etablieren konnte, wusste man im antiken Griechenland, dass das menschliche Gehirn Bilder liebt und dabei nicht unterscheidet, ob diese real sind, oder nur in der Vorstellung existieren. Wie wir von Cicero wissen, nutzten bereits die Kyrenaiker imaginative Techniken zur Antizipation künftigen Übels. Man wollte damit anscheinend eine innere Ablösung von Ärgernissen und unangenehmen Erlebnissen erreichen. Der Gedanke dahinter ist einfach erklärt: Man stellt sich möglichst intensiv und realitätsnah das befürchtete Ereignis vor. Sollte dann das Übel tatsächlich eintreten, hat man dadurch zumindest das Überraschungsmoment und auch das Gefühl der Hilflosigkeit gemindert.


Auch bei den Stoikern war dieses „Vorherbedenken zukünftiger Übel“ (praemedidatio malorum) weit verbreitet. Man ging dabei so weit, dass man sogar den eigenen Tod imaginativ antizipierte, um so die Todesfurcht systematisch aufzuheben. Epikur (ca. 341 - ca. 271 v. Chr.), der zwar auch eine angemessene „Einübung des Sterbens“ für zweckmäßig erachtete, fand jedoch das regelmäßige Vorausbedenken künftigen Übels deswegen unangebracht, weil man sich dadurch nur unnötig mit negativen Gedanken belaste. Was es aber bei den Epikureern gab, war die imaginative Technik, sich vorzustellen, wie sich der Meister selbst unter den gegebenen Umständen verhalten würde. 


FORTIS IMAGINATIO CASUM GENERAT.

DIE KRAFT DER VORSTELLUNG ERSCHAFFT DIE WIRKLICHKEIT.


Wir wissen außerdem von Übungen, bei denen es darum ging, eine innere Distanzierung von alltäglichen Ärgernissen zu erreichen. Mark Aurel (121 - 180 n. Chr.) empfiehlt zu dem Zweck, die Alltagsrealität „wie von einer Anhöhe aus“ zu betrachten. Zuweilen soll man sich, so der kaiserliche Philosoph, vorstellen, wie bedeutungslos letztlich ein Einzelwesen im Vergleich zur Weltzeit und Weltmasse ist. „Denke öfters an die Ewigkeit und die ganze Weltmasse und daran, dass jedes Einzelwesen, mit dem All verglichen, als ein Feigenkörnchen, und, verglichen mit der unendlichen Zeit, als ein Augenblick erscheint, in dem man einen Bohrer umdreht.“(9)  An anderer Stelle rät dieser bedeutende Vertreter der jüngeren Stoa, sich hin und wieder bewusst zu machen, dass sich jedes Lebewesen permanent „auflöst“ und „verwandelt“. „Bedenke, dass jedes Ding nur geboren ist, um zu sterben.“(9)


„Freude macht es, die hohe Sternenbahn zu durchmessen, Freude, die Erde und ihren trägen Sitz zu verlassen, auf der Wolke zu reiten, sich auf die Schultern des starken Atlas zu stellen, von fern auf die allenthalben umherirrenden vernunftlosen Menschen hinabzuschauen, die Ängstlichen, die den Tod fürchten.“ (10) 


ANMERKUNGEN

(1) Seneca in: Epistulae morales 16, 3-5

(2) Diogenes in: frg. 25 Nestle

(3) Seneca in: ep 28,10

(4) Diogenes Laertios in: Vitae philosophorum

(5) Seneca in: De ira III 36

(6) H. Diels u. W. Kranz in: Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin (1961)

(7) Demokrit in: Fragmente zur Ethik, neu übersetzt und kommentiert von G. Ibscher. Stuttgart (1996)

(8) Epikur in: Gnomologium Vaticanum

(9) Mark Aurel  in: Selbstbetrachtungen

(10) Ovid in: Metamorphosen XV 147-151


BILDNACHWEIS

  • Seneca: Marmor-Büste Senecas, anonyme Skulptur des 17. Jahrhunderts, Museo del Prado © Wikimedia Commons
  • Epikur: Busto de Epicuro del Metropolitan Museum of Art © Wikimedia Commons
  • Demokrit: Bronze bust of an unknown man, perhaps a philosopher, discovered in the Villa of the Papyri in Herculaneum. © Wikimedia Commons
  • Epiktet: Frontispiece to Notice sur les traductions françaises du Manuel d'Épictète. Published 1826. © Wikimedia Commons

Wege zum Glück

Seelische Ausgeglichenheit  ataraxia

Auf den Spuren der Philosophen in Athen

Die Agora von Athen

BUCHEMPFEHLUNGEN
  • Christoph Horn: Philosophie der Antike: Von den Vorsokratikern bis Augustinus. C.H.Beck (2013)
  • Michaela Masek: Geschichte der antiken Philosophie. UTB (2012)
  • Walter Kranz: Die Griechische Philosophie. Anaconda (2019)
  • Christof Rapp (Hrsg.) u. Malte Hossenfelder: Antike Glückslehren: Quellen zur hellenistischen Ethik in deutscher Übersetzung. Alfred Kröner (2013)
  • Malte Hossenfelder: Antike Glückslehren: Stoa - Epikureismus – Skeptizismus. Kröner (1996)
  • A.A. Long, D.N. Sedley, Karlheinz Hülser: Die hellenistischen Philosophen: Texte und Kommentare. J.B. Metzler (2006)
  • Epikur: Wege zum Glück (Tusculinum) von Rainer Nickel (Herausgeber, Übersetzer). De Gruyter (2011)
  • Epikur: Philosophie der Freude: Briefe. Hauptlehrsätze. Spruchsammlung. Fragmente. Insel (1988)
  • Epiktet: Das Buch vom geglückten Leben. Anaconda (2015)
  • Epiktet: Über die Kunst der inneren Freiheit: Alte Weisheiten für ein Leben nach der Stoa. FinanzBuch (2019)
  • Ekkehard Martens: Sokrates: Eine Einführung. Reclam (2004)
  • Platon: Apologie des Sokrates. C.H.Beck (2019)
  • Diogenes Laertios: Das Leben des Diogenes von Sinope. Diogenes (2009)
  • Otfried Höffe: Aristoteles: Die Hauptwerke: Ein Lesebuch. A. Francke (2009)
  • Platon - Gesammelte Werke (Anaconda Gesammelte Werke, Band 4) von Platon (Autor), Otto Apelt (Übersetzer), Friedrich Schleiermacher (Übersetzer). Anaconda (2019)
  • Seneca: Von der Kürze des Lebens. Aus dem Lateinischen von o. Apelt. dtv (2005)
  • Seneca: Der Weise ist sich selbst genug. Gedanken für alle Lebenslagen. Reclam (1996)
  • Lukrez: Über die Natur der Dinge. Holzinger (2015)
  • Bernhard Taureck: Die Sophisten. Junius (1995)
  • Sextus Empiricus (Autor), Malte Hossenfelder (Vorwort, Übersetzer): Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Suhrkamp (1985)
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