Die Burg von Midea
Nur wenige Kilometer von den berühmten Ruinen von Mykene entfernt liegt – fast vergessen – die beeindruckende Akropolis von Midea. Hinter ihren mächtigen Zyklopenmauern verbirgt sich ein Ort, der einst Teil des mächtigen mykenischen Netzwerks war und doch lange im Schatten seiner bekannteren Nachbarn stand. Erst im 20. Jahrhundert wurde ihre wahre Bedeutung sichtbar. Heute ist Midea ein faszinierender Ort archäologischer Entdeckungen, zugleich monumental und still. Seine mächtigen Mauern erzählen von einer Zeit, in der Stein mehr war als nur Baumaterial – nämlich Ausdruck von Macht, Sicherheit und göttlichem Anspruch.
Schon von weitem zieht der 270 Meter hohe Hügel von Midea den Blick auf sich – ein markanter Punkt in der sanft gewellten Landschaft der Argolis. Wer sich ihm nähert, versteht schnell, warum gerade hier in der späten Bronzezeit eine Festung errichtet wurde: schwer einnehmbar, mit natürlichem Schutz durch steile Hänge im Südosten und einer ungehinderten Rundumsicht über die gesamte argolische Ebene. Wie die noch erhaltenen Spuren des mykenischen Wegenetzes zeigen, war die Burg von Midea mit den anderen mykenischen Zentren in der Argolis verbunden.
Das befestigte Areal von Midea umfasst rund 2,4 Hektar und gliedert sich in eine Ober- und eine Unterburg, getrennt durch eine schroffe Felsrippe. Die Oberburg krönt das höchste Plateau – hier dürfte der Palast des lokalen Herrschers gestanden haben. Die Unterburg dehnt sich über Terrassen an der Nordwestflanke aus, während Funde außerhalb des Mauerrings auf eine ausgedehnte Unterstadt hinweisen. Besonders eindrucksvoll ist der Kontrast zwischen der rauen Topographie und der durchdachten Architektur – Midea war nicht bloß eine Festung, sondern ein komplexes urbanes Zentrum.
Siedlungsgeschichte
Die ersten Siedlungsspuren in Midea reichen bis ins 5. Jahrtausend v. Chr. zurück. In frühhelladischer Zeit (ab ca. 3100 v. Chr.) entwickelte sich auf dem 270 m hohen Hügel, der den nordöstlichen Winkel der Argos-Ebene dominiert, eine blühende Siedlung, die in der späthelladischen Zeit (1420 – 1190 v. Chr.) zu einem bedeutenden Zentrum mykenischer Kultur avancierte. Die heute noch sichtbaren Mauern sowie die meisten gut erhaltenen Bauwerke der Burg werden in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts v. Chr. datiert. Funde aus dieser Periode – die sogenannte „mykenische Palastzeit“ – belegen Handelsbeziehungen zu Kreta und zu Regionen des östlichen Mittelmeers wie Ägypten, Syrien, Palästina und Zypern.
Um 1200 v. Chr. wurde Midea stark zerstört, doch die Burg blieb auch in der sog. „Nachpalastzeit“ bewohnt. Tonfiguren und Miniaturgefäße aus archaischer Zeit deuten darauf hin, dass hier im 7. bis 6. Jahrhundert v. Chr. ein Heiligtum existierte. Um 470 v. Chr. wurde die Siedlung wahrscheinlich von den Argivern, die kurz darauf auch Mykene devastierten, endgültig zerstört. Wie Strabon berichtet, war Midea im 1. Jahrhundert n. Chr. längst verlassen, und Pausanias, der bei seinen Reisen auch einen Blick auf den Ort warf, sah nur noch die Grundmauern.
Einst schützte eine starke Mauer fast die gesamte Bergkuppe. Nur an der Südostseite verzichtete man auf eine derartige Befestigung, da in diesem Bereich die Steilheit des Geländes natürlichen Schutz bot. Die Länge der geradlinig verlaufenden Mauern, die an einigen Stellen bis zu einer Höhe von 7 m erhalten ist, betrug 450 m. Die Ecken hatten gerundete, bastionsartige Vorsprünge, die offensichtlich die Befestigung verstärken sollten.
Die aus großen Steinen im kyklopischen Stil erbauten Mauern ähneln denen, die wir bereits aus Mykene und Tiryns kennen. Für die Außenfassaden wurden große Steine verwendet. Als Füllmaterial dienten kleinere Steine. Damit erreichten die wuchtigen Mauern eine Stärke von bis zu 7 Metern.
Die Akropolis von Midea – Ein archäologischer Spaziergang
Das Innere der Akropolis gliedert sich in zwei Ebenen, die durch eine schroffe Felsrippe voneinander getrennt sind. Auf der Oberburg (1), die sich auf dem höchsten Plateau erhebt und einst durch eine mächtige Terrassenmauer von der Unterburg abgegrenzt war, befand sich vermutlich der Palast des lokalen Dynasten. Die Unterburg (2), die einen großen Teil des nordwestlichen Berghangs einnimmt, ist in eine Abfolge schräger Terrassen gegliedert. Bei den bisherigen Ausgrabungen wurden unter anderem das Osttor (3), das Westtor (4), ein schmaler Gang (13) im westlichen Abschnitt der Befestigungsmauer – vermutlich eine Geheimpforte –, sowie mehrere Gebäudekomplexe im Bereich der Tore und auf den nordöstlichen und südwestlichen Terrassen der Unterburg freigelegt. Besonders hervorzuheben sind die Reste von Bauten auf der untersten nordöstlichen Terrasse, wo ein zentrales Gebäude die Form eines klassischen „Megarons“ (8) aufweist. Im Zuge der Restaurierungs- und Präsentationsarbeiten in den Jahren 2012 bis 2014 wurde außerdem ein drittes Tor an der Nordseite der Festung freigelegt (14).
Das Gelände der Unterburg gliedert sich in eine Abfolge schräger Terrassen.
Gebäudekomplexe beim Westtor

Das Westtor
Das Osttor

Im Bereich der Unterburg wurde ein regelrechtes Labyrinth aus Mauern freigelegt, das in der Blütezeit der mykenischen Epoche – im 13. Jahrhundert v. Chr. – errichtet wurde. Es handelt sich um eine Abfolge von Gebäuden, die vermutlich nacheinander entstanden sind. Das ursprüngliche Bauwerk wurde im Laufe der Zeit mehrfach umgestaltet und erweitert. Das Hauptgebäude, rund 14 Meter lang und fast 8 Meter breit, weist die charakteristische Form eines „Megarons“ auf: ein rechteckiger Raum mit einer zentralen Feuerstelle, die von vier Säulenbasen umgeben ist, und einem kleinen Nebenraum im hinteren Bereich. Es zeigt deutliche Parallelen zum Megaron im nahegelegenen Tiryns. Das Gebäude wurde gegen Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr. durch ein Erdbeben zerstört, das Midea schwer erschütterte. In der Folgezeit wurde es in veränderter Form wieder aufgebaut – als langgestreckter Raum mit einer mittigen Säulenreihe. In diesem neuen „Megaron“ und den angrenzenden Räumen kamen bedeutende Funde zutage: Ritualgefäße aus Ton, Kultfiguren, kunstvoll gearbeitete Schwertknäufe, Schmuck aus Fayence und mehrere Siegelabdrücke.
Der Megaron-Komplex
BILDNACHWEIS
- East Gate of the Mycenaean city of Midea, in Argolid. Elisa Triolo - Flickr © Bild: Wikimedia Commons

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BUCHEMPFEHLUNGEN
- Josef Fischer: Mykenische Paläste: Kunst und Kultur. Philipp von Zabern (2017)
- J. Lessley Fitton: Die Minoer. Theiss (2004)
- Zeit der Helden: die "dunklen Jahrhunderte" Griechenlands 1200 - 700 v. Chr. Badisches Landesmuseum Karlsruhe. Primus (2008)
- Götter und Helden der Bronzezeit. Europa im Zeitalter des Odysseus. Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (1999)
- Richard T. Neer: Kunst und Archäologie der griechischen Welt: Von den Anfängen bis zum Hellenismus. Philipp von Zabern (2013)
- Katarina Horst u.a.: Mykene. Die sagenhafte Welt des Agamemnon. Philipp von Zabern (2018)
- George E. Mylonas: Mykene. Ein Führer zu seinen Ruinen und seine Geschichte. Ekdotike Athenon ( 1993)
- Ingo Pini: Beiträge zur minoischen Gräberkunde. Deutsches Archäologisches Institut (1968)
- Hans Günter Buchholz: Ägäische Bronzezeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1987)
- Heinrich Schliemann: Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen. Fachbuchverlag Dresden (2019)
- Mykene: Die sagenhafte Welt des Agamemnon. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (2018)
- Louise Schofield: Mykene: Geschichte und Mythos. Zabern (2009)
- Sigrid Deger-Jalkotzky und Dieter Hertel: Das mykenische Griechenland: Geschichte, Kultur, Stätten. C.H. Beck (2018)
- Angelos Chaniotis: Das antike Kreta. Beck'sche Reihe (2020)
- Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Frühzeit: 2000 bis 500 v.Chr. Beck'sche Reihe (2019)