Das Grab wurde über einen längeren Zeitraum, wohl vor allem im 16. und 15. Jahrhundert v. Chr., für Bestattungen genutzt; archäologisch lassen sich mindestens dreizehn Individuen nachweisen. Obwohl das Grab bereits in der Antike geplündert wurde, blieben zahlreiche hochwertige Objekte erhalten. Zu den bedeutendsten Funden zählen kleine Schmuckstücke und kostbare Materialien, Goldblechappliken mit Eulendarstellungen, ein Goldsiegel mit der Darstellung eines geflügelten Greifen sowie ein Goldring, der eine minoische Kultszene an einem Gipfelheiligtum zeigt. Diese reichen Beigaben belegen nicht nur den hohen sozialen Rang der hier bestatteten Personen – vermutlich Angehörige einer führenden lokalen Dynastie –, sondern auch deren Zugriff auf überregionale Netzwerke und prestigeträchtige Importgüter bereits vor der Entstehung des Palastes.
Das Tholosgrab IV beim Palast des Nestor
Das 1953 von William Taylor ausgegrabene und 1957 restaurierte Tholosgrab IV auf dem Hügel von Englianos gehört zu den bedeutendsten Grabbauten der frühen mykenischen Periode (wohl ca. 17. – 16. Jahrhundert v. Chr.). Errichtet noch vor der Blütezeit des Palastes von Nestor, diente es als Bestattungsstätte für mindestens dreizehn Angehörige lokaler Eliten oder Fürstendynastien. Erstaunlicherweise überdauerten trotz der bereits in der Antike erfolgten Plünderungen zahlreiche Funde – darunter Goldsiegel, Schmuck und minoische Kultdarstellungen –, die eindrucksvoll von weitreichenden ägäischen Verbindungen und einem regen kulturellen Austausch zeugen.
Unweit des berühmten Palasts des Nestor bei Pylos liegt das imposante Tholosgrab IV, eines von mehreren monumentalen Kuppelgräbern (Tholosgräbern), die das Bestattungswesen der lokalen Elite in der späten Bronzezeit prägten. Gemeinsam mit den später errichteten Gräbern VI und VII sowie dem bemerkenswerten „Grab des Greifenkriegers“ bildet es ein eindrucksvolles Zeugnis der frühen mykenischen Herrschaftsstrukturen. Tholos IV, eines der größten und architektonisch aufwendigsten Gräber dieser Gruppe, entstand noch vor der Errichtung des eigentlichen Palasts, der später als Residenz des mykenischen Wanax von Pylos diente. Die räumliche Nähe und die Ausstattung der Gräber verdeutlichen die enge Verbindung zwischen dem späteren Palast, den Herrscherfamilien und ihrer repräsentativen Bestattungskultur.
Architektonisch folgt Tholosgrab IV dem charakteristischen Schema der mykenischen Tholosgräber („Bienenkorbgräber“). Diese monumentalen Grabanlagen bestehen aus drei Hauptkomponenten: einem langen, in den gewachsenen Fels eingeschnittenen Zugangskorridor (Dromos), einem monumentalen Eingangsbereich (Stomion) und der eigentlichen runden Grabkammer. Der Dromos diente nicht nur der funktionalen Erschließung, sondern auch der Prozession und Inszenierung von Bestattungsritualen. Er mündet in den Stomion, der durch massive Steinquader gefasst und ursprünglich mit einer schweren Tür verschlossen war.
Die Grabkammer selbst ist als Kragkuppel konstruiert: In konzentrischen Steinlagen, die sich nach innen verjüngen, wurden die einzelnen Steinschichten so angeordnet, dass sie sich gegenseitig abstützten und die charakteristische Bienenstockform bildeten. Diese Bauweise stellt eine ingenieurtechnische Meisterleistung der spätbronzezeitlichen Architektur dar und ermöglichte die Errichtung großer, überdeckter Räume ohne Stützpfeiler.
Tholosgrab IV nimmt innerhalb der Gruppe der pylischen Gräber eine besondere Stellung ein, da es zu den größten und architektonisch ambitioniertesten Anlagen gehört. Es spiegelt nicht nur die technischen Fähigkeiten der frühen mykenischen Baumeister wider, sondern auch die sozialen und politischen Ambitionen der lokalen Herrschaftsgruppen, die sich durch monumentale Grabbauten im landschaftlichen Raum sichtbar machten.
Das Grab des Greifenkriegers und die Tholosgräber VI und VII

Neben dem monumentalen Tholosgrab IV sind in unmittelbarer Umgebung des Palasts von Pylos weitere herausragende Bestattungsplätze entdeckt worden, die wertvolle Einblicke in die frühe mykenische Elitekultur bieten. Besonders hervorzuheben ist das sogenannte Grab des Greifenkriegers, ein außergewöhnlich reich ausgestattetes Schachtgrab, das erst 2015 von amerikanischen Archäologen freigelegt wurde. Dieses Grab, datiert in das 15. Jahrhundert v. Chr. (Späthelladisch IIA), enthielt eine Vielzahl exquisiter Beigaben: kunstvoll gearbeitete Waffen, aufwendiger minoischer Schmuck und verzierte Siegelsteine, die die weitreichenden Verbindungen und den hohen Status des hier bestatteten Mannes belegen. Aufgrund der ausgeprägten militärischen und religiösen Symbolik wird der Verstorbene als herausragender Elitevertreter oder möglicherweise als frühmykenischer Herrscher (Wanax) interpretiert – ein Akteur, dessen separate Bestattung auf seine besondere Stellung innerhalb der Gesellschaft hinweist.
2018 bzw. 2019 wurden durch neue Ausgrabungen auf dem benachbarten Demopoulos-Feld zwei weitere Tholosgräber entdeckt, die als Tholos VI und VII bezeichnet werden. Diese Gräber datieren ebenfalls ins 15. Jahrhundert v. Chr. und ergänzen die bekannte Gruppe von Fürstengräbern bei Pylos. Während Tholos IV als das älteste dieser Kuppelgräber gilt und möglicherweise als zentrales Monument für eine lokale Dynastie diente, zeigen die späteren Tholosgräber VI und VII, dass sich das Areal zu einem bedeutenden Elitefriedhof entwickelte, der über Generationen hinweg genutzt wurde. Zusammen mit dem Grab des Greifenkriegers zeichnen diese Befunde das Bild einer politisch und wirtschaftlich aufstrebenden Oberschicht, die bereits vor der Errichtung des großen Palasts auf dem Englianos-Hügel die Grundlagen für den späteren Palaststaat legte.
Schlüssel zur mykenischen Identität: Wie die Gräber von Pylos den Aufstieg einer Kultur zwischen Mykene und Kreta erhellen
Gerade die Entdeckungen der Gräber rund um den Palast von Pylos – insbesondere Tholos IV, VI, VII und das berühmte Grab des Greifenkriegers – haben unser Verständnis der mykenischen Entwicklung maßgeblich vertieft. Sie gewähren einen einzigartigen Einblick in die sozialen, kulturellen und politischen Dynamiken einer Gesellschaft im Übergang: vom lokalen Fürstentum hin zu einem zentralisierten Palaststaat mit weitreichenden Verbindungen. Die räumliche Nähe und zeitliche Überschneidung dieser monumentalen Grabanlagen belegen, dass Pylos bereits vor der Hochphase des Palasts als bedeutendes Machtzentrum agierte. Hier spiegeln sich nicht nur militärische und wirtschaftliche Stärke, sondern auch enge kulturelle Kontakte zur minoischen Welt Kretas, etwa in Architektur, Kunst und Ritualen. Gemeinsam zeichnen die Tholosgräber und das Schachtgrab des Greifenkriegers ein faszinierendes Bild vom Aufstieg einer Elitekultur, die an der Schwelle zur Blütezeit der mykenischen Zivilisation stand – und werfen zugleich ein neues Licht auf das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen dem griechischen Festland und der minoischen Kultur der Ägäis.
Übersicht: Entwicklung von Pylos – Phasen, Gräber, Bedeutung
Die Geschichte des mykenischen Pylos lässt sich anhand archäologischer Befunde und zentraler Monumente wie Gräbern und Palästen in mehrere klar unterscheidbare Phasen gliedern. Diese Entdeckungen haben unser Verständnis der sozialen, kulturellen und politischen Entwicklungen erheblich geschärft.

- Frühe mykenische Zeit (ca. 1700/1600–1500 v. Chr.): Auf dem Englianos-Hügel etablierten sich erste lokale Eliten. Das beeindruckende Tholosgrab IV zählt zu den frühesten großen Kuppelgräbern der Region und zeugt von erheblichem Reichtum sowie intensivem kulturellem Austausch, insbesondere mit Kreta. Architektur, Siegelikonographie und hochwertige Importe spiegeln einen deutlichen minoischen Einfluss. Bereits in dieser Phase wird ein erstes Maß an politischer Organisation erkennbar, möglicherweise auch durch frühe Befestigungsanlagen.
- Übergangsphase zur Frühstaatlichkeit (ca. 1600–1450 v. Chr.): In dieser Zeit konsolidierte sich eine hierarchische Herrscherelite. Die Tholosgräber VI und VII sowie das spektakuläre Grab des Greifenkriegers (ca. 1450 v. Chr.) belegen eine Phase intensiver Zentralisierung. Reich verzierte Waffen, luxuriöse Grabbeigaben und religiöse sowie militärische Symbolik deuten auf Eliten mit weitreichenden Kontakten und wachsender politischer Macht hin. Diese Akteure legten den Grundstein für die spätere Palastgesellschaft.
- Palastzeit (ca. 1450–1200 v. Chr.): Mit dem Bau des monumentalen Palasts von Nestor erreichte Pylos seine Blüte. Linear-B-Tafeln belegen eine zentralisierte Verwaltung unter einem Wanax (König), mit kontrollierter Produktion, Abgabensystemen und fest integrierten Eliten. Die Bestattungspraxis wandelte sich: Statt monumentaler Tholosgräber wurden nun vermehrt Kammergräber in der Unterstadt genutzt, wobei ältere Grabformen teilweise weiter bestanden.
- Zusammenbruch (ca. 1200 v. Chr.): Um 1200 v. Chr. brach das mykenische Palastsystem zusammen. Der Palast von Pylos wurde zerstört, die überregionalen Kontakte brachen ab, und die Region verfiel in politische Zersplitterung. Dieses Ereignis markiert den Übergang in die sogenannte „dunkle Zeit“ der griechischen Frühgeschichte.

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Palast des Nestor
BUCHEMPFEHLUNGEN
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- Wright, James C.: The Mycenaean Feast. Princeton (2004)
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- Götter und Helden der Bronzezeit. Europa im Zeitalter des Odysseus. Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (1999)
- Richard T. Neer: Kunst und Archäologie der griechischen Welt: Von den Anfängen bis zum Hellenismus. Philipp von Zabern (2013)
- Katarina Horst u.a.: Mykene. Die sagenhafte Welt des Agamemnon. Philipp von Zabern (2018)
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- Hans Günter Buchholz: Ägäische Bronzezeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1987)
- Heinrich Schliemann: Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen. Fachbuchverlag Dresden (2019)
- Mykene: Die sagenhafte Welt des Agamemnon. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (2018)
- Louise Schofield: Mykene: Geschichte und Mythos. Zabern (2009)
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- Angelos Chaniotis: Das antike Kreta. Beck'sche Reihe (2020)
- Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Frühzeit: 2000 bis 500 v.Chr. Beck'sche Reihe (2019)